I. Prolog
Die noch warme, sich leicht rosa färbende Abendsonne im Gesicht, beobachteten wir oft inmitten der Weinreben, wie die Sonne langsam, aber stetig zwischen Burgen und Wäldern im Pfälzer Wald verschwand. Dabei redeten wir oft über das Weltgeschehen im Allgemeinen, interessante Wander- und Laufrouten für die nächsten Wochen und ebenso über allerlei banale Dinge, wie etwa die nächste anstehende WG-Party, das mal mehr und mal weniger gelungene Essen der Uni-Mensa oder über den Geschmack der unterschiedlichen Traubensorten - abhängig davon, wo wir zufällig in den weitläufigen Weinbergen zwischen Landau in der Pfalz und dem Pfälzer Wald gelandet waren. Nicht selten ging es dort in den Gesprächen zwischen meinen Freunden und mir, allesamt Studenten und Studentinnen der Psychologie, um eben dieses Fach. Wir diskutierten über jede Studie, jedes Experiment und jeden Inhalt von Vorlesungen sowie Seminaren und sezierten die unterschiedlichen Themen bis ins letzte Detail. Es ging gar so weit, dass wir Zeiten vereinbarten, bei denen es speziell nicht um Themen der Psychologie, sondern um zum Beispiel oben erwähnte andere Themen gehen musste. Ich erinnere mich noch genau, dass es an einem der Ausflüge in die Weinberge um ein Thema ging (Spoiler: Psychologische Themen waren da gerade erlaubt und gewünscht), das uns alle ziemlich anfixte und zu dem wir jede Menge Redebedarf hatten: Es ging um Systeme.

Wir versuchten dann über Wochen hinweg alles Mögliche über Systeme herauszufinden: Es ging um Kommunikationssysteme nach Niklas Luhmann, um Kybernetik, unterschiedliche Systemtheorien, radikalen Konstruktivismus, wie Paul Watzlawick und Heinz von Foerster Systeme beschrieben, was systemische Therapie neben den dominierenden Psychotherapierichtungen wie der kognitiven Verhaltenstherapie, der Psychoanalyse und der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie zu leisten vermag und vieles mehr.
Mein Interesse hielt an und war über die Jahre ungebrochen, sodass sich einige Jahre nach dem Studium der Psychologie aus dem in der Pfalz in die Erde eingebrachten Samen, bereits ein zartes Pflänzchen entwickelt hatte, welchem ich durch eine Weiterbildung in systemischer Beratung & Coaching weiterhin beim Wachsen verhalf und es mittlerweile mit beträchtlichen Wurzeln im Erdreich Fuß gefasst hat. Da ich in meiner Arbeit u. a. als Coach, Berater und Supervisor viele dieser systemischen Erkenntnisse nutze, möchte ich heute ein paar wichtige Systemkompetenzen umreißen, welche mir bei meiner Arbeit als Richtschnur sehr gute Dienste erwiesen haben. Egal ob in Therapie, Beratung, Coaching, Supervision, Management oder in der Pädagogik und der sozialen Arbeit können folgende Kompetenzen hilfreich für eine qualitativ hochwertige Arbeit sein.

II. Sozialstrukturen und Kontexte ("Einer unter Vielen")
Jeder Mensch ist in unterschiedlichen Systemen sozialisiert und zuhause. Systeme finden sich also nicht nur am Arbeitsplatz (etwa bezogen auf mein Arbeitsfeld eine Management-Supervision oder eine Teamentwicklung). Dort mag das System (etwa die Geschäftsführung oder das Team) zwar unmittelbar augenscheinlich sein, dieses System ist aber wiederum in ein größeres System eingefasst, etwa in eine ganze Abteilung oder an einer Stelle im Gesamtunternehmen. Ebenso können Sie bei einem Einzelcoaching davon ausgehen, dass nicht nur die spezifische Person von Belangen ist, sondern diese in unterschiedliche Ökosysteme eingebettet ist und andere Personen - wenn auch nicht sichtbar und physisch präsent - praktisch mit am Tisch sitzen. Es geht also darum, die unterschiedlichen Sozialstrukturen und Kontexte von Einzelpersonen und Gruppen in den Blick zu nehmen. Versuchen wir es etwas weniger abstrakt - was meint das also konkret? Gemeint sind die unterschiedlichen Erwartungen der Gruppenmitglieder, deren Aufgaben, Aufträge und Kompetenzen sowie Rollen, genauso wie die formellen und informellen Spielregeln und Verbindungen zwischen unterschiedlichen Akteuren. Bildlich gesprochen geht es darum, sich den Coachee, das Team oder das Management eines Unternehmens wie eine einzelne Nervenzelle im Gesamtverbund des Gehirns vorzustellen, welches innerhalb der Zelle eigene Gesetzmäßigkeiten aufweist und über Dendriten und Axone Informationen aufnimmt und weitergibt. Letztlich geht es um die Vernetztheit und die Kommunikationsmuster von Einheiten, welche man in der Rolle als Prozessbegleiter (dies kann alles von Coach, über Consultant zu Trainer sein) erfassen und, wenn passend, auch thematisieren sollte. Diese Informationen müssen einem als externe Unternehmensbegleitung nicht intuitiv zufliegen, sondern eine mögliche Lösung wäre:
"Das Wichtigste ist, dass man nicht aufhört zu fragen." (Albert Einstein)
III. Umgang mit Zeit ("Alles hat seine Zeit")
Bei jeder Art von Unterstützung (Nachfolgregelung bei Familienunternehmen, Konflikt zwischen Abteilungen, Teamentwicklungsmaßnahmen, Executive-Coachings, Eignungsdiagnostik zur Personalauswahl usw.) in Unternehmen geht es um irgendeine Art von Veränderung - außer der Status quo soll erhalten werden, was ebenso eine zeitliche Dimension aufweist - ansonsten wäre man wahrscheinlich nicht konsultiert worden. Als systemkompetent könnte man nun Menschen bezeichnen, welche einen guten Umgang mit der Zeit haben. Aber was ist ein guter Umgang mit der Zeit? Jedes System hat eine Eigendynamik, auch in zeitlicher Hinsicht. Es geht also einerseits darum, die günstigen Momente für Veränderungen zu erspüren, zu nutzen und zu fördern. Es geht aber andererseits ebenso darum, warten zu können und Zeitdruck zu vermeiden, wenn die Zeit für die Veränderung noch nicht reif ist.

Die Betrachtung beim Umgang mit der Zeit, bezieht sich überdies ganz generell auf die Dauer von Prozessen in Unternehmen (Wie lange begleitet man ein Unternehmen als Consultant oder Coach? Wie lange sollte eine Sitzung dauern? usw.) und auf den zeitlichen Bezug bei der Arbeit mit Systemen. Wann ist es sinnvoll, gemeinsam mit dem Coachee einen Blick in die Vergangenheit zu werfen, wann arbeitet man im Hier und Jetzt und wann orientiert man sich bei der Erarbeitung von Zielen, Visionen und Perspektiven an der Zukunft? All dies fordert vom Prozessbegleiter ein, dass er oder sie die zeitliche Dimension stets in Betracht nimmt und transparent als Inhalt des Prozesses dem Gegenüber anbietet. Und als Berater oder Beraterin ist man ja auch nicht komplett machtlos:
"Die Zeit ist schlecht? Wohlan. Du bist da, sie besser zu machen." (Thomas Carlyle)
IV. Emotionale Dimension ("Emotionen sind überall")
Ein weiterer Bereich meiner Arbeit ist die Notfallpsychologie, daher bin ich durch zahlreiche Einsätze in der akuten Krisenintervention erfahren darin, heftige Gefühle der Betroffenen in der Begleitung von Personen und Gruppen bei Notfällen jedweder Art (bei Interesse finden hier weitere Infos) auszuhalten. Wenngleich ich mich noch gut an eine meiner ersten Betreuungen (ich betreute die Eltern, deren Kind sich das Leben genommen hatte) erinnere, wo ich ordentliche Angst vor heftigen Gefühlsreaktionen der Betroffenen (aber auch eigene Reaktionen) hatte. Es ist auch in Ordnung zu bemerken, dass die Gefühle anderer Menschen einen manchmal einschüchtern können, und dennoch ist es wesentlich, dass Empathie eben nicht mitleiden heißt, sondern man in seiner Rolle nur dann sinnvoll seine Arbeit machen kann, wenn man heftige Gefühlsausbrüche aushalten kann, ohne dabei einzuknicken, sie persönlich zu nehmen oder dadurch in einen hibbeligen, falschen Aktionismus gerät. Entschuldigen Sie mir diesen kleinen Exkurs in die Gefilde der Notfallpsychologie, dieser Ausflug ist allerdings wichtig, weil ich davon überzeugt bin, dass sich diese Kompetenz nicht nur auf den Bereich der Notfallpsychologie beschränken sollte, sondern ebenso eine wichtige Rolle als Berater oder Beraterin im Unternehmen darstellt. Mir helfen die Erfahrungen durch die Begleitung von Krisen jedenfalls enorm dabei, auch bei Konflikten in Teams oder Verwerfungen und heftigen Emotionen bei Führungskräften einen kühlen Kopf zu behalten und weiterhin Orientierung bieten zu können.
Ebenso gehört zur emotionalen Dimension, auf die Selbstfürsorge zu achten - wo liegen die eigenen Grenzen und was kann man selbst zur Aufrechterhaltung oder Wiedergewinnung eigener Kräfte und Ressourcen tun? Hierbei hilft es etwa, selbst immer wieder Supervision in Anspruch zu nehmen, sonst bleiben blinde Flecken eben blinde Flecken.

Allein die emotionale Dimension würde Stoff für 20 Artikel bieten, ich möchte es aber bei dieser kleinen Auswahl belassen, nicht ohne aber noch zu erwähnen, dass sie auch die Förderung von Beteiligungen und Zugehörigkeiten und das Aushalten von Widersprüchen und Paradoxien enthält. Und wenn man die emotionale Dimension würdigt, bietet sie auch viele Entwicklungspotentiale:
"Die ganze Mannigfaltigkeit, der ganze Reiz und die ganze Schönheit des Lebens setzen sich aus Licht und Schatten zusammen." (Leo Tolstoi)
V. Soziale Kontaktfähigkeit ("Verbindungen schaffen")
Die Substanz der Diktion sollte nach herkömmlicher Konnivenz für die Majorität der Subjekte evident sein. Bitte was? Dieser Satz soll zeigen, was das Gegenteil von sozialer Kontaktfähigkeit bedeutet, denn systemkompetent in Bezug auf die soziale Kontaktfähigkeit sind diejenigen, die sich einer verständlichen Sprache bemühen. Das Ausdrücken der eigenen Kultiviertheit und Bildung zum Pushen des Egos durch kompliziertes Kauderwelsch im Fachjargon zählt sicherlich nicht dazu. Dazu gehört auch, sensibel für die Aufnahmebereitschaft des Gegenübers zu sein, also seine oder ihre Sprache in Form von den passenden Worten und Metaphern zu adressieren.
Unterschiedliche Menschen sind in unterschiedlichen Kulturen und sozialen Räumen sozialisiert worden und es gilt daher bezogen auf die soziale Kontaktfähigkeit offen, neugierig und unvoreingenommen für andere Sprachen, Ausdrucksweisen, Regeln, Umgangsformen und Operationsweisen zu sein. Auch hier steht der systemische Gedanke im Vordergrund. Denn es gilt anzuerkennen, dass es neben dem Sinnerleben in eigenen Systemen, auch viele andere Systementwürfe (etwa Lebensentwürfe nach Werten, Bedürfnissen und Motiven) gibt.
Und schließlich geht es darum über Disziplingrenzen hinweg zusammenzuarbeiten und dabei das eigene Selbstwertgefühl sowie das der anderen zu unterstützen. Das Gegenteil wäre, sich selbst für unentbehrlich zu halten und daher harte Grenzen nach außen zu wählen. Aber warum? Wenn Sie es zulassen, andere Coaches, interne HR-Kräfte usw. als Unterstützung zu akzeptieren, und nicht als Konkurrenz zu sehen, sind Sie dem System dienlicher und nicht nur Ihrem eigenen Ego.
„Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt“ (Ludwig Wittgenstein)
VI. Systemförderung ("Die stimmige Rolle zur passenden Zeit")
Zur Förderung von Systemen ist eine gewisse Flexibilität der eigenen Rolle von Nöten, da ein starres Anbieten des immer gleichen Rollenangebotes in unterschiedlichen Kontexten und bei unterschiedlichen Klienten zu kurz greift und oft an den Bedürfnissen der jeweiligen Teams, Führungs- oder Fachkräfte vorbeigeht. Bei der Förderung eines Systems, geht es sodann einerseits um die Bereitschaft zum fehlerfreundlichen, spielerischen - gemeinsamen - Experimentieren und ausloten von Sinn, Weg und Grundbedürfnis des Gegenübers und andererseits um die komplementäre Fähigkeit, gerade in kritischen Veränderungssituationen Sicherheit zu vermitteln. Manchmal braucht es als Coach also Flexibilität, Offenheit und Variabilität, ohne zugleich ins chaotische abzudriften und manchmal braucht es vom Coach Struktur, Halt und Orientierung - ohne dabei als starr und ungelenk wahrgenommen zu werden. Wenn ein Mensch dann noch weiß, wann das eine und wann das andere angemessen ist, dann wäre er durchaus als systemkompetent zu bezeichnen und hätte das wünschenswerte Rüstzeug, um Systeme jedweder Art zu fördern.
"Man kann einen Menschen nichts lehren, man kann ihm nur helfen, es in sich selbst zu entdecken." (Galileo Galilei)
VII. Systemtheoretisches Wissen ("Wissen ist Macht, zu viel Wissen ist Ohnmacht")
Ich erspare mir an dieser Stelle eine Analyse über das immer komplexere Leben im 21. Jahrhundert auf Mutter Erde. Globalisierung, Digitalisierung, disruptive Technologien, Wissens-, Ereignis- und Meinungsüberflutung bei gleichzeitig nur rudimentärer Medienkompetenz usw. tun ihr Übriges, um den subjektiven Eindruck der Überforderung (z. B. bei der Entscheidungsfindung) in einer immer abstrakter und wenig resonierenden Welt zu zementieren. Ja, die Welt ist komplex, muss aber nicht zwangsläufig immer kompliziert sein. Aufgabe von systemkompetenten Beratern und Beraterinnen ist es daher schlussendlich, die Komplexität des Geschehens in Systemen so zu reduzieren, dass daraus zielgerichtetes Handeln möglich wird. Natürlich sollte man die Welt nicht einfacher machen, als sie ist und wahllos mit Scheuklappen populistischen Meinungen aufspringen, um nicht neugierig, offen und reflektiert über Themen und Phänomene nachzudenken. Der Verstand ist ein wunderbares Werkzeug, nur sollte man den Beratungsprozess nicht mit Inhalten überfrachten und stattdessen gekonnt Themen verdichten und bei der Schärfung des Fokus unterstützen, damit daraus keine überforderte Lähmung, sondern der Mut und der Wille zur Veränderung reift.
"Handlung drückt Prioritäten aus." (Mahatma Gandhi)

VIII. Epilog
Um systemische Gesprächsführungskompetenzen wird es dann im nächsten Beitrag gehen, denn auch über die passende Art und Weise Vorträge zu halten, als Therapeut oder Consultant den richtigen Ton zu treffen usw. haben wir bereits damals in den Weinbergen gesprochen. Und da Gesprächsführungskompetenzen - analog zu den Systemkompetenzen - für alle Menschen in unterschiedlichen Bereichen wichtig und relevant sind, betrachten wir diese dann etwas genauer.
Es gilt hier noch zu erwähnen, dass Beraterinnen und Coaches den Begriff der Systemkompetenz selbstverständlich nicht für sich allein gepachtet haben, sondern ich hier lediglich aus Erfahrungen dieser Berufsgruppe berichte und daher eine bestimmte Perspektive einnehme. Die erwähnten Systemkompetenzen können nicht nur von einzelnen Personen unterschiedlichster Profession, sondern auch von kleinen und großen Mehrpersonensystemen (Familie, Verein, Partei, Team, Organisation etc.) in unterschiedlichen Ausprägungsgraden vorhanden sein oder zusätzlich trainiert werden.
An den warmen Sonnenabenden zwischen den Weinreben in der Pfalz, war mein Blick auf die Systemik, der eines unerfahrenen, neugierigen Betrachters in unbekannter Materie. Heute, mit einigen Jahren Abstand, ist der Blick erfahrener und dennoch ist es gleichzeitig wichtig, stets offen und neugierig zu bleiben, um sich nicht auf Grund von Erfahrungen den ungetrübten Blick zu verbauen. Diese Offenheit gehört ebenso zu Systemkompetenz, denn ein Leitsatz, worüber wir in der Gruppe der Teilnehmer und Teilnehmerinnen der systemischen Weiterbildung oft schmunzeln mussten, war:
"Es könnte alles auch ganz anders gewesen sein. Dies ist nur eine Art und Weise die Geschichte zu erzählen."
Ihr Andreas Matuschek
Literaturempfehlung:
Arist von Schlippe & Jochen Schweitzer: Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung 1 und 2. Vandenhoeck + Ruprecht, Göttingen
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